Deserteure im Zweiten Weltkrieg: Der lange Weg zur Rehabilitation
Heinrich Böll (1981)
1953 wies der Kölner Schriftsteller Heinrich Böll auf eine Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus hin, deren Schicksal in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten war:
"Wo sind die Deserteure? Wo sind die Eltern, sind die Freunde, die Brüder und Schwestern dieser erschossenen Deserteure, deren Leiden man auf die Schwelle des Friedens häufte? (...) Und wo sind die Deserteure, die sich in den zerstörten Städten verbargen, in Dörfern und Wäldern, wartend auf die Aliierten, die für sie damals wirkliche Befreier waren? Haben sie Angst vor den gründlich ihnen eingeimpften Phrasen, die Fahneneid, Vaterland, Kameradschaft heißen?"
Dieser Appell Bölls verhallte 40 Jahre lang fast ungehört. Das Schweigen über die Opfer der NS-Militärjustiz und ihr Schicksal wurde im Deutschland des Wirtschaftswunders und der Wiederbewaffnung nicht gebrochen, die Unrechtsurteile der Kriegsgerichte nicht revidiert, die Verantwortlichen für tausende von Todesurteilen nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen. Autoren des nationalsozialistischen Kriegsrechts schreiben die Geschichte der Militärjustiz, und die Verurteilten galten weiterhin als vorbestraft. Im August 1939 war im nationalsozialistischen Deutschland ein neues Kriegsstrafrecht in Kraft getreten, das von führenden Militärjustizen zusammen mit der NSDAP erarbeitet worden war. Als rechtliche Grundlage des Militärstrafverfahrens enthielt sie keines der Grundprinzipien des modernen Rechtsverständnisses: Einen unabhängigen Instanzenweg zur Prüfung der gefällten Urteile oder die Trennung von Exekutive und Judikative ebensowenig wie das grundsätzliche Recht auf einen Verteidiger.
Der Disziplinierungs- und Strafapparat der Deutschen Wehrmacht war historisch und im internationalen Vergleich beispiellos: Man schätzt, dass die Deutsche Wehrmacht während des Krieges über 1000 - 1200 Kriegsgerichte mit zeitweise über mehr als 3000 Richtern verfügte.
In Abgrenzung von seinem Vorläufer in der Weimarer Republik war das nationalsozialistische Wehrrecht als reines Mittel militärstrategischer Interessen konzipiert. Im Rahmen der Dolchstoßlegende hatten nationalistische Kreise nach dem ersten Weltkrieg der Militärgerichtsbarkeit immer wieder vorgeworfen, durch eine angeblich zu milde Spruchpraxis Mitverantwortung für die Niederlage des Deutschen Reiches zu tragen, und Adolf Hitler hatte in seinem Buch "Mein Kampf" gefordert, Desertion in jedem Einzelfall mit dem Tode zu bestrafen. Die Militärrichter der Wehrmacht erwiesen sich als gnadenlose Vollstrecker dieser Vorgabe: Während des Zweiten Weltkrieges fällten sie mindestens 35000 Urteile gegen Soldaten, die man der Desertion beschuldigte. In etwa 65 % der Fälle lautete das Urteil: Todesstrafe.
In diesen Fällen sind die Urteile anderer Gerichte, wie der SS- und Polizeigerichte sowie der fliegenden Standgerichte der letzten Kriegswochen noch nicht einmal mit erfasst. Die militärhistorische Forschung ist sich heute einig, daß mindestens 20000 dieser Urteile vollstreckt wurden. Die Kriegsgerichte der Wehrmacht fällten demnach mehr Todesurteile als die Sondergerichte und der berüchtigte Volksgerichtshof zusammen.
Ermordeter Deserteur des II. Weltkrieges
Den überlebenden Opfern der Militürjustiz blieb nach dem Krieg jede moralische und finanzielle Entschädigung vorenthalten. Das Makel des Verräters wirkte fort. Nur wenige bekannten sich offen zu ihrem Handeln, wie etwa der Schriftsteller Alfred Andersch in seiner autobiographischen Erzählung "Die Kirschen der Freiheit", die 1952 erschien. Auch die Rolle der Wehrmachtsjustiz blieb unaufgearbeitet. In einem einzigen Fall wurde gegen einen ehemaligen Stabsrichter, der noch nach der Kapitulation der Wehrmacht drei Matrosen wegen Fahnenflucht hatte hinrichten lassen, eine zweijährige Gefängnisstrafe verhängt; auch er wurde 1952 noch freigesprochen, da man ihm eine "vorsätzliche Rechtsbeugung" nicht zusprechen wollte. Sachverständiger Gutachter in diesem Verfahren war ein ehemaliger Marinerichter: Erich Schwinge, der im Wintersemester 1946/47 bereits wieder eine Professur in Marburg erhalten hatte. Schwinge, später Rektor der Marburger Universität, war einer der Autoren des nationalsozialistischen Kriegsstrafrechts. Als Herausgeber der einzigen Monographie zu diesem Thema war Schwinge nach dem Kriege maßgeblich verantwortlich für eine jahrzehntelange irreführende Darstellung der Rolle der NS-Militärjustiz im Nationalsozialismus.
Erst Anfang der 80er Jahre entspann sich eine öffentliche Debatte über die Bewertung der ungehorsamen Soldaten in Hitlers Wehrmacht: Auslöser waren zunächst kleinere Initiativen, die vielerorts antraten, dem "unbekannten Deserteur" ein Denkmal zu setzen. Dieses Ansinnen und der heftigste Widerstand, mit dem ihm zunächst in vielen Städten begegnet wurde, entfachte nun eine Debatte, die zunehmend auf die Felder der Wissenschaft und Politik übergriff. Wichtig für die Auseinandersetzung war außerdem die Gründung eines eigenen Interessenverbandes der "Opfer der NS-Militärjustiz", welcher die Forderung nach Rehabilitation der überlebenden Opfer und ihrer Angehörigen zu seinem Anliegen machte. Vier Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus entwickelte sich nun eine breite Kontroverse sowohl über die Rolle der Justiz in Hitlers Wehrmacht als auch über die moralische und juristische Beurteilung der Deserteure, Gehorsamsverweigerer und Wehrkraftzersetzer, die bis heute andauert.
Ermordeter Deserteur des II. Weltkrieges
Auf dem Gebiet der Geschichtsforschung wurde die bisherige Einschätzung der Wehrmachtsjustiz und ihres Wirkens insbesondere durch die Forschungen von Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt (bis 1988 wissenschaftlicher Leiter des militärhistorischen Forschungsamtes der Bundeswehr in Freiburg) erschüttert und neu geschrieben. Auf politischer Ebene spiegelt sich die Kontroverse im Streit um die Rehabilitierung der im zweiten Weltkrieg verurteilten Soldaten und ihrer Angehörigen, der seit 1991 über 6 Jahre lang den Bundestag beschäftigte. Ursache des parlamentarischen Streits war ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991, welches der Witwe eines 1945 erschossenen Wehrpflichtigen Entschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz zugesprochen hatte. Die zuständigen Richter verlangten außerdem vom Gesetzeber eine klare rechtliche Regelung der Entschädigungsfrage.
Im Mai 1998 beschloss der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Rehabilitierung der Deserteue und eine symbolische Entschädigung der Überlebenden und ihrer Angehörigen.
Link
Link zum Bundesjustiministerium"
"Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege "
Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz
Eintrag zur "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz auf Wikipedia"